Lob der Stiefmutter by Llosa Mario Vargas

Lob der Stiefmutter by Llosa Mario Vargas

Autor:Llosa, Mario Vargas [Llosa, Mario Vargas]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-09-07T17:00:00+00:00


8.

Das Salz seiner Tränen

Justiniana hatte tellergroße Augen und hörte nicht auf zu gestikulieren. Ihre Hände waren wie Propeller.

»Der junge Herr Alfonso sagt, daß er sich umbringen will! Weil Sie ihn nicht mehr liebhaben, sagt er!« Sie blinzelte erschrocken. »Er schreibt Ihnen einen Abschiedsbrief, Señora.«

»Schon wieder einer dieser Scherze, die … die …?« stotterte Doña Lukrezia, während sie ihr im Spiegel der Frisierkommode einen Blick zuwarf. »Du hast nicht vielleicht einen kleinen Vogel und denkst dir das alles aus?«

Aber das Gesicht des Mädchens sah nicht nach Scherzen aus. Doña Lukrezia, die gerade dabei gewesen war, sich die Augenbrauen zu zupfen, ließ die Pinzette zu Boden fallen und stürzte ohne weitere Fragen die Treppe hinunter, gefolgt von Justiniana. Die Tür des Kinderzimmers war zugesperrt. Die Stiefmutter klopfte an: »Alfonso, Alfonsito.« Es kam keine Antwort, noch hörte man innen irgendeinen Laut.

»Foncho! Fonchito!« beharrte Doña Lukrezia und klopfte erneut. Sie spürte, wie es ihr kalt den Rücken hinunterlief. »Mach auf! Geht’s dir gut? Warum antwortest du nicht? Alfonso!«

Der Schlüssel drehte sich knarrend im Schloß, aber die Tür ging nicht auf. Doña Lukrezia atmete tief durch. Sie hatte wieder festen Boden unter den Füßen, die Welt ordnete sich von neuem, nachdem sie ein rutschiges Chaos gewesen war.

»Laß mich allein mit ihm«, befahl sie Justiniana.

Sie trat ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Sie bemühte sich, die Empörung zu zügeln, die jetzt in ihr aufstieg, da der Schreck vorbei war.

Der Junge, noch mit dem Hemd und der Hose der Schuluniform bekleidet, saß mit gesenktem Kopf an seinem Arbeitstisch. Er blickte auf und schaute sie an, reglos und traurig, schöner denn je. Obwohl noch immer Helligkeit durch das Fenster drang, hatte er die kleine Lampe eingeschaltet, und in dem goldenen Lichtkreis, der auf das grünliche Löschpapier fiel, erblickte Doña Lukrezia einen halbfertigen Brief mit noch glänzender Tinte und einen offenen Füllfederhalter neben seiner kleinen Hand mit den fleckigen Fingern.

Sie ging mit langsamen Schritten auf ihn zu.

»Was machst du da?« fragte sie leise.

Ihre Stimme und ihre Hände zitterten, ihre Brust hob und senkte sich.

»Einen Brief schreiben«, erwiderte das Kind rasch mit fester Stimme. »An dich.«

»An mich?« fragte sie lächelnd und versuchte, geschmeichelt zu wirken. »Kann ich ihn schon lesen?«

Alfonso legte seine Hand auf das Papier. Er hatte zerzauste Haare und war sehr ernst.

»Noch nicht.« In seinem Blick lag eine erwachsene Entschlossenheit, und seine Stimme klang herausfordernd. »Es ist ein Abschiedsbrief.«

»Ein Abschiedsbrief? Aber gehst du denn weg, Fonchito?«

»Ich bring mich um«, hörte Doña Lukrezia ihn sagen, während er sie unverwandt anschaute, ohne sich zu rühren. Aber nach einigen Sekunden fiel seine Fassung in sich zusammen, und seine Augen wurden feucht: »Weil du mich nicht mehr liebhast, Stiefmutter.«

Der halb schmerzliche, halb aggressive Ton, mit dem er sprach, während sein kleines Gesicht sich zu einer Schippe verzog, deren er vergeblich Herr zu werden versuchte, die Worte eines verlassenen Liebhabers, die er benutzte und die so wenig zu der kleinen bartlosen Gestalt in kurzen Hosen passen wollten, entwaffneten Doña Lukrezia. Sie verharrte stumm, mit offenem Mund, und wußte nicht, was sie antworten sollte.



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